image1
Volle Rakibars im Ramadan und schwule Pärchen, die ohne Diskriminierung zu erfahren, durch die Altstadt schlendern. Man merkt: Die Menschen in den Vierteln um den Taksim Platz scheinen von Offenheit und Säkularismus geprägt. Istanbul ist eine bunte Stadt – die Reiseführer bewerben die Stadt als “Herz der Schwulen und Lesben in der Türkei” –und erwähnen dabei auch ganz selbstverständlich die Pride als das jährliche Fest einer offenen Türkei.

Eine Pride die seit mehr als einem Jahrzehnt ohne Zwischenfälle stattfindet und ein ganz selbstverständlicher Teil des bunten, des offenen Istanbuls und der neuen Türkei ist. Oder genauer: war. Leider.
Dabei begann diese Pride so, wie es für viele Deutsche Städte nur wünschenswert wäre: Mit linker polnischer Musik wurden die Menschen am Freitag auf die Pride bei einer großen Party eingestellt, am Samstag fand dann ein offizieller Regenbogenempfang der Istanbuler Stadträtin SedefÇakmak (CHP), der ersten bekennenden lesbischen Politikerin der Türkei, statt.

Der Bürgermeister des Istanbuler Bezirks war da – und sprach sich ganz selbstverständlich für die Rechte von LGBTI* Personen aus. Genauso, wie viele andere prominente Politiker*innen.

Das alles verschaffte dieses Gefühl der Sicherheit: Hier sind alle Menschen unabhängig ihrer sexuellen Orientierung sicher. Ein Gefühl das täuschen sollte.

image2Nur wenige Stunden vor dem offiziellen Beginn der Pride saßen wir, einige GRÜNE aus NRW, in einem Café, 5 Minuten von der Istiklal. Bei Mocca und türkischem Brot stimmten wir uns auf die Pride ein. Voll Vorfreude auf jenes größtes Fest für eine bunte und befreite Gesellschaft in der näheren Region. Voll Vorfreude darauf, dass die Menschen Erdogan und seiner zur Diktatur tendierenden AKP zeigen das die Realität viel weiter ist als er und seine Opportunist*innen. Voll Vorfreude den Wahlsieg der HDP gemeinsam mit anderen zu feiern.

Doch das Erdogans Partei ebendiese Realität und genauso Menschen, die in seine -zeitlich in die Steinzeit einzuordnenden – illegitime Wertvorstellungen nicht passen, nicht ertragen kann, zeigte die AKP mit all ihrer Macht nach dem Motto “Ihr könnt uns schon abwählen, aber wir machen trotzdem weiter” das auch ganz gut die Demokratieauffassung der ihren beschreibt: Erst etwa 2 Stunden vor Beginn der Demonstration verbat der Istanbuler Gouverneur die Demonstration. Die offizielle Begründung: Die Demonstration würde die religiösen Gefühle während des Ramadans stören.

Abgesehen von der Fadenscheinigkeit, dass der Ramadan im letzten Jahr und bei einer Transparade eine Woche vor der Pride kein Problem darstellte und die Türkei gemäß der Verfassung ein säkularer Staat ist, lässt sich nicht der Eindruck der bewussten Wahl des Zeitpunktes des Verbotes leugnen: Der Termin der Pride war seit mehreren Monaten bekannt und dennoch verbat der Gouverneur die Pride so, dass die Scharen die gen Taksim unterwegs waren, nicht mehr hätten von den Initiator*innen aufgehalten werden können.

Das perfide Ziel dahinter kann folglich nur eine Eskalationsstrategie sein. Das einzige bewusste Ziel hinter dieser Eskalationsstrategie musste also eine gewollte Jagd auf die Demonstrierenden sein. 

Und diese Jagd ging die Polizei mit Taktik an: Am Taksim, dem Eröffnungsplatz der Demonstration, wartete die Polizei bis der Platz gefüllt war mit einer bunten Masse an Menschen voller Gesang, Blumen und Queernes. Plötzlich wurde die Polizei jedoch autoritär und schickte die Menschen eine Seitenstraße hinunter. Sie wurden von Wasserwerfen und Tränengas in Empfang genommen.

Auf Anweisung des AKP gelenkten Gouvernements schickt also die Polizei LGBTI* Personen in Schmerzen und Traumata. Willkommen im Sultanat von Recep Tayyip Erdoğan!

Doch die staatlichen Repressalien hielten die Menschen nicht davon ab weiterzuziehen in Richtung der Hauptstraße Istiklal. Die kurdischen Gesänge und queeren Küsse waren stärker als die Wasserwerfer und vertrieben die paramilitärische „Polizei“. – Zwei Straßen weiter nach einem friedlichen Protestzug: Plötzlich schießt die Polizei. Gezielt mit Pfeffer-Bomben und Gummigeschossen. Ein scheinbar echter Schuss geht in Richtung eines provozierenden Demonstranten. 

In diesem Moment wandelte sich meine Vorstellung einer Türkei in der ich mich sicher fühlte zur Vorstellung eines parteigesteuerten Polizeistaates:

Hier leistet die Polizei keinen Ansatz von Rechtsstaatlichkeit. Hier schießt die Polizei. Auf Menschen, die nicht in die Normen der AKP passen. 

Ich hatte Angst, eine Mikrosekunde sogar um mein Leben.

Nach alledem kämpften wir uns weiter vor und landeten in einem großen Protestzug auf der abgesperrten Istiklal. Alle wussten um die Bedrohung durch die Polizei, aber die kurdischen Gesänge und queeren Küsse waren so viel stärker als die Bedrohung von Erdogans Parteimillitär, der „Polizei“. Die Botschaft war klar: Sie (die Polizei) hat zwar Waffen, aber wir haben etwas anderes: Wir haben Haltung. 

Leider dauerte es aber nur wenige Minuten bis die „Polizei“ wieder gegen den legitimen Protest vorging: Wasserwerfer jagden, begleitet von Gummigeschossen und Pfeffer-Bomben, die Menschen hin und her durch die Innenstadt.

Es wirkte als sei es ein Räuber&Gendarm Spiel aber für die Demonstrant*innen war es Realität.

Das bewundernswerte an den Menschen: Sie ließen sich nicht durch die Repressalien unterkriegen, sondern machten weiter. Abends versammelten sich Massen am Galata Turm und in der „Tünel Sahne“, einer queeren Disco, die nur so vor Tränengas triefte, und feierten. Sie liessen sich nicht einschüchtern von dieser Regierung, die nicht für die Menschen arbeitet sondern gegen sie. 


Nach den unzähligen Eindrücken von dieser Demo war für mich klar:

Die Menschen in der Türkei haben diese Regierung nicht verdient. Die Offenheit auf den Straßen, die vollen Rakibars, die schwulen Pärchen in der Istanbuler Innenstadt: Das alles ist nicht AKP. Das alles ist nicht Erdogan. Und deswegen müssen wir die linksdemokratischen Kräfte, wie es die HDP weitgehend ist, weiterhin unterstützen. Denn nur so ist ein Machtwechsel weg von Kemalismus, Nationalismus und Islamismus möglich. Die Türkei ist kein vorbildlicher Staat in Sachen Demokratie, aber in der Türkei finden halbwegs freie Wahlen statt und das eröffnet eine Chance.

Und noch etwas ist für mich klar:

Die AKP ist eine menschenfeindliche Partei. Der Gouverneur von dem der Polizeibefehl kam ist immerhin von der Regierung ebendieser Partei eingesetzt. Abgesehen davon sollte schon längst seit den Gezi-Protesten klar sein das diese Partei sich mit Demokratie, mit Freiheit widerspricht.

Aus diesem Grund trägt nach meiner Empfindung jede*r, der*die AKP bei den Parlamentswahlen unterstütze Schuld. Schuld für Unterdrückung. Schuld für antidemokratische Tendenzen von Seiten des Staates.

All jenen Menschen, die die AKP unterstützten ist nur noch zu sagen, dass sie in der deutschen Schwesterpartei dieser wohl hinsichtlich der Ansichten zu Demokratie und Freiheit besser aufgehoben sind: In der Alternative für Deutschland, die ebenso wie die AKP der Europapartei der „Konservativen und Reformisten“ angehört.

Es lebe die offene Türkei! Es lebe Istanbuls Queernes!

Uzun açık Türkiye’yi yaşamak! Yaşasın İstanbul queerliğin!

Anmerkung: Ich bin kein Türkeiexperte, sondern habe mit diesem Text versucht meine Eindrücke der Pride zu schildern. 

Ich habe bewusst emotional aufgeladen geschrieben, um die Relevanz der Situation zur Geltung zu bringen. Hierauf zurückzuführende Entgleisungen bitte ich zu entschuldigen. 

Die Inhalte bezüglich der Pride selbst beruhen weitestgehend auf einem Gedächtnisprotokoll, weshalb ich keine vollständige inhaltliche Korrektheit garantieren kann.

Der Bericht und die Fotos stammen von Max Lucks.