Justitia
Knapp acht Monate ist es her, dass Tugce Albayrak in Offenbach ihr Leben verlor, weil sie zwei jungen Mädchen zur Hilfe eilte und dafür so heftig geschlagen wurde, dass sie an den Folgen verstarb. Es dauerte nicht lange und sie wurde als Heldin gefeiert, die mutig Zivilcourage bewiesen hatte. Zivilcourage, das wissen wir spätestens seit Dominik Brunner, ist schließlich eine Tugend, derer sich die Deutschen gerne rühmen. Gleichzeitig konnte man so auch ein Beispiel für eine “gut integrierte Türkin” als Ausnahme lobend hervorheben. Nur, warum bewies Tugce eigentlich genau Zivilcourage?

Vergangenen Dienstag wurde das Urteil gefällt. Der Angeklagte kommt in Haft. Doch noch immer wird kaum darüber gesprochen, was die Ursache für Tugces Handeln war: sexuelle Belästigung. 
Schon kurz nach Tugces Tod befasste sich die Jungle World mit den Reaktionen und schon damals war die Bilanz ernüchternd: Die Tatsache, dass die beiden Mädchen von jungen Männern sexuell belästigt wurden, stand weit hinter dem Diskurs um Zivilcourage zurück. Sich überhaupt mit dem Thema sexueller Belästigung auseinanderzusetzen, kam den Deutschen Durchschnittsbürger*innen ebenso wenig in den Sinn wie Entscheidungsträger*innen oder Symbolfiguren der deutschen Leidtkultur.

 

Wie auch in einem Land, in dem sexuelle Belästigung nicht als Straftat gilt, in dem jede Frau*, die es wagt, einen Mann der Vergewaltigung zu bezichtigen, zuallererst einmal als Lügnerin verdächtigt wird, bevor den Anschuldigungen (wenn überhaupt) nachgegangen wird. In dem die physische Gegenwehr, sofern sie nicht exakt zum Zeitpunkt des Übergriffs stattfindet, als Körperverletzung geahndet wird?
 In dem ein Mann, der des Missbrauchs beschuldigt wird, meist wenig zu verlieren hat – ganz im Gegensatz zu einer Frau*, für die die Konfrontation mit den abwertenden Blicken der Nachbarn in einer solchen Situation vermutlich noch die angenehmste Form der sozialen Stigmatisierung darstellt. Oder in dem die Schuld an Vergewaltigungen noch immer den Opfern zugeschoben wird, dem der Europarat erst erklären musste, dass seine Auffassung von einvernehmlichem Sex Vergewaltigungen beschönigt und dessen Justiziminister den Paragrafen 177 mit den Worten, wem dieser nicht streng genug sei, denke vermutlich “zu weiblich”, kommentierte? Einem Land, in dem gerade erst an einer Gesetzesreform gearbeitet wird, die eine sexuelle Handlung trotz “Nein” auch als das ansieht, was es ist: Vergewaltigung.
Wenn eine Frau beschuldigt, wird zuerst ihre Aussage geprüft und dann die des möglichen Täters. Eine Verschärfung des Paragraphen 117 könnte, so fürchten Kritiker*innen, dazu führen, dass Männer wegen Missbrauchs angeklagt und verurteilt werden könnten, obwohl sie diesen nicht begangen hätten. Dass die aktuelle Rechtsprechung dagegen schon fast ein Freibrief für sexuelle Belästigung bis hin zur Vergewaltigung ist, wird dabei natürlich tunlichst verschwiegen.
Eine “Spirale der Aggression” soll es also gewesen sein.
Tugce war gar nicht das liebe, brave Mädchen, für das sie alle gehalten haben, nein, sie hat es gewagt, die Stimme zu erheben. Frauen machen so etwas nicht. Frauen bitten leise, aber sich laut zur Wehr setzen, das ist Sache der Männer. Platt gesagt: Tugce ist irgendwie auch selbst schuld, wenn sie sich provozieren lässt. Hätte sie nicht provoziert, hätte sich die Situation gar nicht erst so “aufgeheizt”.
Und weil es so Spaß macht, schlägt die Welt gleich nochmal nach altbekannter Manier in dieselbe Kerbe. Schließlich ist Victim Blaming schon länger deren Spezialgebiet.
Scharfsinnig fragt sie also, ob Tugces Einschreiten denn überhaupt nötig und klug gewesen sei.

 

“Das eine der Mädchen  hatte einen Strauß Rosen in der Hand, den ihr zuvor ein Junge geschenkt  hatte, während sie mit angezogenen Füßen auf dem Boden hockte und vor  sich hin stierte.
Diese  bizarre Szene verlockte die betrunkenen Jungs, die gerade vom Feiern in  einer Disco angerauscht waren, die Teenager anzubaggern. Ob sie einen  Freund hätten, so hübsche Mädchen, ob sie noch was trinken gehen  wollten, solche Sachen. Nervig, ja, aber niemand habe sie angefasst,  sagten die Mädchen aus.”

 

Eine bizarre Szene also, ja geradezu verlockend. Wenn die Torte unbeaufsichtigt im Raum steht, dann wundere dich doch bitte nicht, wenn der Hund sie auffrisst. Oder so.
“Nervig” ist das also, aber solange sie nicht angefasst werden, ist ja alles gut. Deutscher Normalzustand eben. Sexuelle Belästigung? Nervig, aber natürlich. Muss Frau halt mit rechnen, wenn sie in ihrer Erscheinung ein so “bizarres” Bild abgibt. Als wäre das nicht schon genug, setzt der Artikel aber noch eins drauf: Statt auf das “Haut ab!” der Mädchen zu reagieren, hätte Tugce das Management darüber informieren sollen, dass zwei betrunkene Kinder auf dem Toilettenboden gesessen hätten: 

 

“Da schrie die eine genervt: “Haut ab!” Tuğçe, die die Teenager vorher  schon auf der Toilette hatte sitzen sehen und auch die pöbelnden Jungs  oben im Restaurant erlebt hatte, zählte eins und eins zusammen – und  rannte los. Es wäre wohl besser gewesen, wenn sie stattdessen schon  lange vorher das Management im Restaurant informiert hätte: darüber,  dass zwei Fast-noch-Kinder betrunken auf dem Boden der Toilette saßen.”

 

Damit ist die Schuldfrage wunderbar geklärt, ohne sie offen auszusprechen. Tugces Handeln wird einfach so lange ausgehöhlt, bis nicht mehr viel davon bleibt, die Mädchen haben unverantwortlich gehandelt, die Jungs eben normal gebaggert, wie das Jungs eben so machen. So einfach ist das Thema sexuelle Belästigung aus der Welt zu schaffen.
Und wenn es sich nicht um eine bedrohliche Situation gehandelt hat, war Tugces Eingreifen eben auch unnötig. Wie genau sich eine bedrohliche Situation darstellt, darüber urteilt natürlich die Öffentlichkeit dieses Landes. Selbstredend fällt das Urteil über das Ausmaß der Bedrohung so aus, wie es dem öffentlichen Bild entspricht und nicht, wie es der Einschätzung von Frauen* entspräche, die täglich mit Harassment, Belästigung und Herabsetzungen zu tun haben.
Dominik Brunner erhielt für seinen Mut, mit dem er einen Streit schlichten wollte und dafür mit dem Leben bezahlte, ein Bundesverdienstkreuz. Vom Bundesverdienstkreuz kann man halten was man will, aber angesichts der Umstände könnte man auf die fixe Idee kommen, auch Tugce habe eines verdient. Bundespräsident Gauck sieht das jedoch anders. Um eine Frau zu sein, musst du dich eben doppelt beweisen. Zivilcourage allein reicht nicht. Erst recht nicht, wenn du diese ausgerechnet gegen eine so unwichtige Kleinigkeit wir sexuelle Belästigung einsetzt.

 

 

 

Der Text stammt von Laila aus der Redaktion.

Bild: FotoHiero/pixelio.