Prolog

Der deutsche Bundestag verabschiedet am 02. Juni 2016 eine Resolution, der die Massaker an Armenier*innen im osmanischen Reich als Genozid einstuft. 101 Jahre nach den Geschehnissen.

Zuvor rufen Organisationen, die teilweise mit Bundesländern Staatsverträge abschließen, mindestens aber als Alliierte in Fragen der ‚Integration’ gelten, zu Demonstrationen gegen die Resolution auf und erklären die türkeistämmigen Abgeordneten zu Feind*innen.

Angela Merkel hatte der Abstimmung selbst nicht beigewohnt und sich auch im Vorfeld nicht dazu geäußert. Durch Abwesenheit glänzte außerdem der Vizekanzler Sigmar Gabriel sowie – jetzt wird’s spannend – der Außenminister Frank Walter Steinmeier.

Der türkische Staatsminister empfand es offenbar als nicht ausreichend, dass die Staatsspitze geschlossen dieser Abstimmung fernblieb und erklärte in gewohnter Manier die türkeistämmigen Abgeordneten zu Terrorist*innen. Pardon, das stimmt so nicht. Er mutmaßte, ob diese nicht im Namen von terroristischen Organisationen handelten. Im Netz entfacht sich sogleich eine Hexenjagd – auch unter Türkeistämmigen in Deutschland.

Zu den Geschehnissen im Interview befragt wirkt Frau Merkel sichtlich überfordert. Nach dem gewohnten Zucken in der Lippe und einem kreativen „eeeh“ folgt ein Suchen nach der korrekten ‚Bezeichnung’ der betroffenen Abgeordneten. Sie entscheidet sich dann für „türkischstämmige Abgeordnete“ – wie die meisten.

1 Verschränkungen der Außen- und Innenpolitik

Die Türkeipolitik Deutschlands im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik machen eins deutlich: Außenpolitische Handlungen haben ganz deutliche und klare Implikationen auf innenpolitische Geschehnisse. Kurz nachdem die Resolution im Bundestag verabschiedet wurde und die sozialen Netzwerke mit indirekten oder direkten Morddrohungen gegenüber den türkeistämmigen Abgeordneten nahezu überflutet wurde, beschließt der Integrationsrat in Duisburg einstimmig eine Resolution gegen die Resolution des Bundestags. Darin bezichtigt sie türkeistämmige Abgeordnete u.a. der Kollaboration mit Terrororganisationen.

Aber es ist nicht nur die Türkeipolitik, die hier an Bedeutung gewinnt. Auch die anti-israelischen Demonstrationen in der Vergangenheit zeigen uns, dass es nicht um eine bestimmte Bevölkerungsgruppe geht. Auch die salafistischen Bewegungen, die man überall beobachten kann, z.B. mit Koran-Verteil-Aktionen, machen deutlich, dass internationale Umwälzungen auch in unseren Kommunen relevant werden.

2 Einwanderungsland oder Einwanderungsgesellschaft?

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Dieses Eingeständnis hat viele Jahrzehnte gebraucht. Aber sind wir auch eine Einwanderungsgesellschaft?

In unserem Unverständnis dessen, was eine Einwanderungsgesellschaft ist, haben wir Fördertöpfe geschaffen, die die sogenannte ‚Integration’ voranbringen sollten. Eine ganze ‚Industrie’ hat sich inzwischen dazu entwickelt. Sogenannte Migrantenselbstorganisationen (Abk. MSO) treten hier in Konkurrenz zu bestehenden gemeinnützigen Organisationen und kämpfen unter Umständen von Projekt zu Projekt ums Überleben.

Ein Beispiel dazu: Die europäische Kommission hat den EU – Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 initiiert. Neben vielen Punkten werden hieraus auch Projekte speziell zur „Integration junger Roma“ finanziert. Organisationen wie die Caritas, die AWO und andere bewerben sich ebenso mit Projekten wie so genannte MSO . Ein spezieller Fördertopf wird geschaffen, an dem nun alte und neue Organisationen in Konkurrenz zueinander zu partizipieren versuchen. Die Frage hier nun lautet: Warum eigentlich in Konkurrenz zueinander – also, warum jede Organisation für sich?

Organisationen wie die Caritas und die AWO oder andere haben langjährige Erfahrungen in Aufbau und Struktur von Projekten, während die Migrantenorganisationen ganz offensichtlich den besseren Zugang zu der Zielgruppe haben.

Auf den Punkt gebracht heißt das: in der so genannten Integrationspolitik sollte es mehr darum gehen, ‚Organisationen‘ in reguläre Systeme zu integrieren, anstatt sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie man Menschen ‚integrieren‘ kann. Menschen lassen sich offenbar nirgendwo hinein integrieren – entweder sie partizipieren an der Gesellschaft oder nicht.

3 Der Fluch des Integrationsbegriffs

Inzwischen leben Menschen teilweise bereits in vierten Generation aus ehemaligen Einwanderungsfamilien in Deutschland und werden noch immer als Menschen mit Migrationshintergrund gelabelt. Dem Mikrozensus sei Dank, erfuhr der Begriff Migrationshintergrund eine ungeahnte Karriere. Ohne die komplizierte Definition zu kennen, wird der ‚Hintergrund’ gern auch als eine Art Erweiterung oder Erneuerung des altbekannten ‚Migranten’ eingesetzt.

Wer aber sind diese Menschen? Auf der einen Seite sind sie die großen Bildungsaufsteiger*innen der Gesellschaft. Sie sind die Gewinner*innen im Rennen um den Bildungsaufstieg, weil sie z.T. anders als Menschen ohne Migrationshintergrund aus bildungsfernen Schichten den größeren Abstand erreichen. Es macht einen Unterschied, ob ein Kind aus einem Haushalt mit Eltern, die einen z.B. einen Realabschluss haben, einen Hochschulabschluss erlangt, oder ob man diesen erlangt, während die Eltern u.U. sogar funktionale Analphabeten sind oder ‚nur‘ einen Grundschulabschluss haben. Die Strecke zwischen beiden Abschlüssen, die geschafft werden , ist ungleich groß.

Lange diente der Bildungsstatus zusammen mit entsprechenden Sprachkenntnissen und der sogenannten Arbeitsmarktintegration als Gradmesser für die ‚Integration‘.

Auf der anderen Seite aber weiß die Migrationssoziologie, dass Menschen der dritten Generation aus ehemaligen Einwanderungsfamilien zu größerem Nationalismus hinsichtlich der Herkunft ihrer Eltern neigen, als die erste Generation – also, diejenigen, die tatsächlich ihre Sozialisation in einem anderen Land erfuhren.

Das hat wohl verschiedene Ursachen; eine davon aber ist sicher auf die Fremdzuschreibung als Migrant*in oder eben wahlweise als Mensch mit Migrationshintergrund zurückzuführen. Sie hat zur Folge, dass Menschen aus Familien mit Einwanderungsgeschichte nie so richtig dazu gehören. Namen spielen bei der Bewerbung immer noch eine größere Rolle als Qualifikationen. An der Fremdzuschreibung hängen auch unmittelbare politische Entscheidungen, wie z.B. die zuvor beschriebene Integrationspolitik mit der entsprechenden Förderpraxis.

Letztlich müssen wir uns wohl eingestehen, dass wir eine Entkopplung dieser Menschen aus unserer Gesellschaft heraus nicht nur zugelassen, sondern sie u.U. sogar daran gehindert haben, jemals ein Teil dieser Gesellschaft zu werden.

4 Partizipation vs. Integration

Es konnte damit eine ‚Lücke‘ entstehen, in der sich die Betroffenen weniger der hiesigen Gesellschaft und Politik zugehörig fühlen, die andere für sich nutzen. Dass der türkische Staatspräsident zwanzigtausend Menschen zu Wahlveranstaltungen in Deutschland akquirieren kann, während jede*r achte Bürger*in in Deutschland kein Wahlrecht hat, weil sie sogenannte Drittstaatsangehörige sind, macht die ‚Lücke‘ sichtbar.

Bildung und Arbeit werden im Diskurs häufig als Schlüssel zur ‚Integration‘ kolportiert . Dabei ist es ein höchst neoliberaler Zugang zum Thema. Der Partizipationsgedanke hört da auf, wo die Steuern bezahlt werden und keine*r Ärger macht, oder vice versa Menschen aus der öffentlichen Hand leben oder ‚auffällig‘ werden. Dabei ist die Wahlbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund (nach Mikrozensus) zwar gestiegen, aber sie ist sie dennoch niedriger, als bei Menschen ohne einen Migrationshintergrund

Der Punkt ist, während wir uns Sorgen über ‚Parallelgesellschaften‘ machen, weil bestimmte Stadtteile von bestimmten Bevölkerungsgruppen höher frequentiert werden als von anderen, geht es die ganze Zeit eigentlich darum, wann, wo und wie die Betroffenen an der Gesellschaft partizipieren können. Parallelgesellschaften entstehen nicht in Stadtteilen, sondern vor allem in Strukturen. Strukturen die z.B. Integrationsräte so verstehen, dass man sich dort ‚selbst organisieren‘ kann, anstatt eine Organisation mitten in der Gesellschaft und zusammen mit ihr ermöglicht.

Unser monokulturelles Politikverständnis macht es uns auch unmöglich, die ‚richtigen‘ Partner*innen zu finden. Obwohl es inzwischen in der ‚migrantischen‘ Comunity vermehrt Organisationen gibt, die weit weg von ethno- oder kulturzentrierter Arbeit sind (z.B. „Die Neuen Deutschen“), glauben wir noch immer, Politik für neue Generationen mit Partner*innen aus vergangenen Zeiten machen zu können. Anstelle eines Ministeriums für Integration und Teilhabe haben wir eine Position der „Staatsminister*in bei der Bundeskanzlerin als Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration“. Anstelle einer großen Integrations- und Teilhabekonferenz schaffen wir eine Institution „Islamkonferenz“ zu der Organisationen mit mindestens fragwürdigen aber teilweise auch ganz klaren Verbindungen zu anderen Ländern. Einige der dort vertretenen Organisationen gehören übrigens zu den Organisationen, die zu den Demonstrationen bezüglich der Armenier-Genozid-Resolution aufriefen.

5 Fazit

Die Tatsache, dass die Bundesregierung einige Tage Zeit brauchte, um auf die Beschuldigungen und Angriffe der eigenen Abgeordneten im Hinblick auf die Resolution zum Armenier*innen-Genozid überhaupt zu reagieren und niemand auf die Idee gekommen ist, zu fragen, was genau so ein Bluttest belegen solle oder der ausschließliche Angriff der türkeistämmigen Abgeordneten als gegeben hingenommen wurde, spricht Bände.

Der türkische Staatspräsident impliziert mit seiner Bluttest-Frage, dass türkeistämmige Abgeordnete nicht für Türk*innen – im ethnischen Sinne – sprechen könnten. Auch die Organisationen, die zum Protest aufriefen, proklamieren, dass die entsprechenden Abgeordneten nicht ‚mehr‘ für sie sprächen.

Das Spannende daran ist: niemand kam auf die Idee zu antworten: Tun sie auch nicht. Sie sprechen als Abgeordnete im deutschen Bundestag für die Gesamtbevölkerung in Deutschland ungeachtet der ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit dieser.