Wir leben in einer Welt, in der es immer nur um höher, schneller, weiter zu gehen scheint. Leider bilden Lernstätten dabei absolut keine Ausnahme- das Gegenteil ist der Fall. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der Schule, eingesperrt in Gebäuden, die oft einer Fabrik näher kommen als einem Ort des Lernens und der Persönlichkeitsentwicklung. Sie bekommen vorgegeben, wann sie sprechen, essen, trinken und sogar aufs Klo gehen dürfen, in welcher Farbe dieser oder jener Text unterstrichen werden muss und ob Regelschmerzen eine ausreichende Entschuldigung für das Fehlen beim Sportunterricht ist. Sie werden, meist ohne jegliches Mitspracherecht, mit anderen Schüler*innen in künstlich konstruierte Klassenverbände einsortiert, in denen sich Hierarchien bilden und Mobbing leider viel zu oft an der Tagesordnung ist.

Doch offenbar ist das alles nicht genug, in den letzten Jahren wurde die Gymnasialzeit auch noch ein Jahr verkürzt, denn es kann ja nicht sein, dass Gymnasialschüler*innen in Deutschland volljährig sind, wenn sie die Schule verlassen. Es wird von Konkurrenzfähigkeit gesprochen, von Vereinheitlichung und von internationalem Wettbewerb. Worüber sehr wenig gesprochen wird, sind die Menschen. Jene Menschen, die jetzt den kaum gekürzten Lernstoff ein Jahr schneller zu lernen haben, die Hobbies gegen teure private Nachhilfe tauschen und die oft an dem, auf sie ausgeübten Druck schlichtweg zerbrechen. Das alles weiterhin in der kalten, fabrikartigen Atmosphäre einer Schule.

 
Deswegen hier ein Plädoyer; ein Plädoyer für mehr Zeit und Flexibilität. Wir müssen Schüler*innen endlich wieder als Menschen sehen, anstatt nur als zukünftige produktive Mitglieder unserer kapitalistischen Gesellschaft. Es kann einfach nicht sein, dass wir von zu einem großen Teil minderjährigen Abiturient*innen erwarten, an die Uni zu gehen und es kann verdammt noch mal auch nicht sein, dass sich die Welt von Kindern und Jugendlichen fast nur um Schule dreht. Wo bleibt da Raum für die persönliche Entfaltung? Für Interessen außerhalb von Schulfächern und AGs? Fürs Ausruhen und Nichtsstun? Für Spiele, Dates, Ehrenämter und am wichtigsten, unverplante Freizeit?
Wenn Kinder in die Schule kommen, sind sie oft sehr aufgeregt und motiviert. Hurra, ich bin ein Schulkind und nicht mehr klein. Doch irgendwo auf dem Weg zwischen Einschulung und Abschluss, wird den meisten Schüler*innen diese Motivation genommen. Also lasst uns endlich das System den Menschen anpassen und nicht umgekehrt! Und anfangen könnten wir damit, den Schüler*innen das ihnen gestohlene Jahr zurück zu geben.

 
Der Schritt zurück von G8 zu G9 (G8= achtjährige Lernzeit am Gymnasium. G9= neunjährige Lernzeit am Gymnasium) kann dabei natürlich nur ein Anfang sein, wir brauchen sehr viel mehr als das. Wir brauchen kleinere Lerngruppen, flexiblere Stundenpläne, mehr Wahlfreiheiten und Mitbestimmungsrechte, mehr Förderung und Forderung außerhalb von Nachhilfe und wir brauchen schlichtweg mehr Zeit. Ja, das Ganze wird teurer und aufwendiger, als den Mist, den wir momentan als Schulsystem bezeichnen (oder besser Schulsysteme, denn Bildung ist ja immer noch Ländersache), aber das sollte es wert sein, denn immerhin geht es hier um die Bildung und das Wohlergeben zukünftiger Generationen. Ach, und wenn wir schon immer von internationalem Wettbewerb reden, sollten wir vielleicht mal einen Blick nach Finnland richten. Da lernen nämlich alle Schüler*innen bis zum Ende der verpflichtenden Schulzeit gemeinsam, ohne Sitzenbleiben, dafür mit ganz viel individueller Unterstützung, zugeschneidert auf die jeweilige Person, alles organisiert in Halbtagsschulen. Das Mittagessen ist in den Schulen kostenlos und Bildungserfolg ist in Finnland auch deutlich weniger von dem sozialen Status und dem Migrationshintergrund der Eltern abhängig als in Deutschland. Weiterhin sind die Quoten der Schüler*innen, die nach der verpflichtenden Schulzeit nicht noch einen höheren Abschluss erwerben, dort schwindend gering. Und was ist mit der Leistung, werden einige fragen, denn wir leben ja im Land von höher, schneller, weiter. Diesen Leuten empfehle ich, sich die Ergebnisse der PISA-Studien anzusehen*, da hat Finnland, im Verhältnis zu Deutschland, nämlich phänomenal abgeschnitten. Finnland steckt prozentual zum BIP aber halt auch mehr Geld in Bildung, nur mal so am Rande.
*http://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-internationaleschulleistungsstudiederoecd.htm (Letzter Zugriff: 18.11.2015).

 

(Foto: https://de.wikipedia.org/wiki/Schule)