if i could stop the clocky
Die Zeit scheint still zu stehen, die Ruhe vor dem Sturm der empörten Wutbürger*innen. Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und kaum bezähmbare Wut brechen aus dem Volkskörper hervor, dem jegliches Verständnis fehlt, der sich echauffiert und den Weltuntergang nahen sieht, der nicht mehr weiß, wie er all die Tugenden erfüllen soll, derer er sich rühmt und der schier verzweifelt aus Angst, sein Arbeitspensum nicht zu schaffen.
Was ist nur geschehen, dass die Deutschen derartig aus ihrer Routine gerissen werden?

Die GDL streikt. Mal wieder. Und die Deutschen sind empört. Wie kann diese Gewerkschaft es wagen, in einem Ausmaß zu streiken, das uns alle betrifft? Wie kann sie auch noch von uns erwarten, das zu verstehen und unsere eigene Person innerhalb dieser leistungsorientierten Gesellschaft zu reflektieren?
Es ist in der Tat bezeichnend für die Deutschen, dass sie sich stunden-, tage-, ja wochenlang über Bahnstreiks aufregen, während die Nachricht über von der Polizei gefolterte Geflüchtete angesichts dieser so unglaublich fassungslos machenden Dreistigkeit der Lokführer*innen zur bedeutungslosen Randnotiz verkommt.
“Sollen sie ja meinetwegen streiken, aber doch bitte so, dass es mich nicht betrifft!” Nein, einfach nein. Es liegt in der Logik eines jeden Streiks, dass er Druck auf die Arbeitgeber*innen erzeugen muss, um seine Wirkung zu entfalten. Der Druck auf die Deutsche Bahn entsteht primär durch unzufriedene Kund*innen, die ausweichen müssen, sich Alternativen suchen, kurz: die Wirtschaftsleistung negativ beeinflussen könnten. Somit ist die Wut auf den Streik sogar gut, denn sie übt Druck aus – nur leider auf die Falschen. Statt sich auf die Deutsche Bahn zu konzentrieren, die sich weigert, die Forderungen der Streikenden auch nur ansatzweise ernstzunehmen, hasst die*der gute Deutsche die Lokführer*innen, die angemessen entlohnt werden wollen. Wie können sie sich auch erdreisten, den Mund aufzumachen und Rechte einzufordern, die die Effizienz der deutschen Wirtschaft tangieren könnten? 
Dass die Bahnen, die 7 Tage die Woche, oft rund um die Uhr, Menschen von A nach B kutschieren, von irgendwem bedient werden müssen, wird nicht bedacht. Wie, Urlaub? Die Lokführer*innen sehen doch täglich tolle Landschaften, was wollen sie mehr? 
Das Streikrecht hat eine lange, brutale Geschichte und wurde in der Vergangenheit hart erkämpft. Es bildet die Grundlage des Arbeitnehmer*innenrechts und soll, zumindest in der Theorie, die hierarchische Asymmetrie zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen abflachen. Man kann sicher viele Kritikpunkte finden, muss in Wesselsky keinen Schwiegermutterliebling sehen und sollte möglicherweise auch die zunehmende Zentralisierung von Gewerkschaftsarbeit auf wenige große Gewerkschaften kritisch betrachten. Doch genau diese Entwicklung ist kein Zeichen einer in den Augen so vieler entgeisterter Bürger*innen überdurchschnittlichen Aggressivität oder Radikalität der Gewerkschaften, ganz im Gegenteil. Wenn etwas kritisierenswert ist, ist es die Zahnlosigkeit der meisten Gewerkschaften, die lieber zwei Schritte zu viel auf die Arbeitgeber*innen zugehen als einen zu wenig, und dafür sorgen, dass sich die Arbeitnehmer*innen allzu oft nicht mehr von ihnen vertreten fühlen. In der Konsequenz orientieren sie sich hin zu den wenigen Gewerkschaften, die bereit sind, auch mal Unmut auf sich zu ziehen. Aber selbst diese sind im europäischen Vergleich äußerst zahm. Zum Vergleich: In Frankreich kommen pro Jahr auf 1000 Beschäftigte 150 Streiktage, in Deutschland gerade mal 16.
Auch die Tatsache, dass Wesselsky nicht aus purer Boshaftigkeit ein Problem mit den Schlichtungsverfahren hat, sondern weil eine daraus resultierende Friedenspflicht der GDL weitere Streiks verbieten könnte, wird beim kollektiven Wutablassen gerne außen vor gelassen.
Was direkt vor unserer Nase passiert, ist natürlich viel schlimmer. Mehr noch: Der Streik könnte ja dazu führen, dass wir reflektieren müssen!
Auch wenn Manche es zu glauben scheinen, die GDL streikt nicht einfach mal so, weil es gerade Spaß macht und sie sonst nichts zu tun hat. Streiks erfordern organisatorischen Aufwand, Pressearbeit und angesichts des deutschen Wutbürgertums auch einiges an mentaler Stärke.
Außerdem ist Streik insbesondere ein gutes Mittel für jene Berufe, deren Bedeutung für die Gesamtgesellschaft verkannt wird. Seien es Lokführer*innen auf der einen Seite oder, ein weiteres aktuelles Beispiel, Kindergärtner*innen auf der anderen. Die großmütterliche Weisheit, dass wir die Bedeutung einer Sache oft erst dann erkennen, wenn sie nicht mehr verfügbar ist, trifft auch in diesem Fall zu.
Wohin würde es denn führen, wenn die Gesellschaft keine Kindergärten mehr hätte, wenn die öffentliche Infrastruktur nicht existierte? Welch schlimmen Auswirkungen dies auf eine kapitalistische Gesellschaft wie die unsrige hätte: Weniger Arbeit, mehr Freizeit, das Ende des Streiks würde vielleicht gar in der angemessenen Anerkennung von Arbeit gipfeln… kaum auszumalen, was passieren würde,wenn die Deutschen anfingen, den Wirtschaftsstandort Deutschland hinsichtlich ihrer Lebensqualität zu hinterfragen.
Aber bekanntlicherweise wollen wir selten Dinge hinterfragen, deren Antwort unbequem ausfallen und Handeln erfordern könnte. Als moderne Egoist*innen, als die wir uns perfekt in die Leistungsgesellschaft einordnen und stets nur unser  eigenes Wohl vor Augen haben, können wir nicht damit umgehen, wenn  scheinbar Selbstverständliches infrage gestellt wird. 
Lieber verlassen wir uns dann doch auf den Liveticker der BILD, der sich zuverlässig subjektiv über den Streik empört und damit den Geist der modernen Zeit einfängt. Oder so in der Art.
Deshalb: Danke, liebe GDL, dafür, dass ihr euer grundgesetzlich gesichertes Recht in Anspruch nehmt, danke dafür, dass ihr streikt. Und danke liebe Kindergärtner*innen, die ihr endlich Anerkennung für eure keineswegs einfache Arbeit erfahren möchtet. 
Streikt, was das Zeug hält. Kartoffelland kann einen kräftigen Tritt zur Selbstreflexion sehr gut gebrauchen.

 

Text und Bild stammen von Redaktionsmitglied Laila.