Mohnblüten im Klatschmohnfeld
In meiner Krankenakte steht, ich sei schwer depressiv.
Wenn ich darüber mit Menschen spreche, ernte ich oftmals Schweigen oder befremdete Blicke. Manche Menschen, mit denen ich etwas näher bekannt bin, lassen auch gerne mal ein „Hab’ dich doch nicht so!“ verlauten, wenn ich wegen meiner Stimmung ein Treffen kurzfristig absagen muss.
Andere teilen mir mit,  es nicht zu glauben, wo ich doch so ein offener, freundlicher und lebhafter Mensch sei. Wieder andere blicken verständnisvoll und meinen es nicht einmal böse, wenn sie all mein Handeln, all meine Charakterzüge, ab sofort nur noch mit Verweis auf meine Krankheit erklären.
In bestimmten Bundesländern kann ich aufgrund meiner Krankheit nicht verbeamtet werden. Mir einzugestehen, dass ich eine unter anderem hormonell bedingte Fehlfunktion meines Gehirns habe, die dazu führt, dass ich mich oft monatelang zu nichts aufraffen kann, Schlafprobleme habe, emotional oft keinen Zugang zu Dingen habe und nicht unter Menschen gehen kann, hat lange gedauert. Ich bin froh, eine Therapeutin gefunden zu haben und nehme inzwischen Antidepressiva. Wer mich nicht genau kennt, käme kaum auf den Gedanken, dass mit mir „etwas nicht stimmt“.
Allerdings wird gesellschaftlich noch immer ein Unterschied gemacht zwischen physischen und psychischen Krankheiten. Dass jemand wegen Rückenschmerzen nicht arbeiten kann, wird ziemlich selbstverständlich anerkannt. Dass jemand wegen einer psychischen Erkrankung in vielen Alltagsdingen eingeschränkt ist, leider nur sehr selten.
Suizide bekannter Personen wie etwa des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf oder der des Fußballers Robert Enke lösen oft Überraschungen aus und zeigen gleichzeitig, wie sehr psychische Erkrankungen sowohl bagatellisiert als auch im gesellschaftlichen Diskurs tabuisiert werden. Meistens zumindest.
Als nach dem Absturz der Germanwings- Maschine bekannt wurde, dass der vermutlich dafür verantwortliche Copilot an Depressionen litt, war das gesellschaftliche Echo verheerend – und äußerst erschreckend.
In den Kommentaren der Onlinezeitungen, aber auch in der Öffentlichkeit wurde das Thema Depression diskutiert, als gehe von depressiven Menschen eine Gefährdung der Allgemeinheit aus. Fragen wurden aufgeworfen, etwa die, ob Depressionen nicht ein Ausschlussgrund für bestimmte Berufe mit Verantwortung sein sollten. Der psychische Zustand des Copiloten wurde zum Top-Thema, die einzige Erklärung für sein Handeln wurde die Depression.
Es ist mehr als nachvollziehbar, dass nach einem solchen Unglück der Wunsch nach Aufklärung, der Wunsch danach, dies alles zu verstehen, sehr groß ist.
Doch pauschale Verurteilungen helfen nicht weiter, genausowenig wie aus Unwissenheit getätigte Pseudodiagnosen Unbeteiligter, die versuchen, das Verhalten eines menschen zu pathologisieren. Sie führen dazu, dass Menschen, die möglicherweise an Depressionen leiden, sich nicht trauen, Hilfe zu suchen, wenn sie dadurch kriminalisiert und auf ihre Krankheit reduziert werden. Wer damit automatisch im Verdacht steht, demnächst Menschen in den Tod zu reißen, hält vermutlich eher den Mund, verzichtet auf professionelle Hilfe- und bringt sich dann ob der ausweglosen Situation um? Dies darf und kann kein Weg sein, wie gesellschaftlich mit psychischen Erkrankungen umgegangen wird. 
Eine Katastrophe wie der Flugzeugabsturz darf nicht zur Folge haben, dass Millionen Menschen unter Generalverdacht gestellt werden. Dass genau dies passierte zeigt, wie notwendig ein Umdenken der hiesigen Gesellschaft ist. In diesem Zusammenhang ist es auch die Aufgabe von Politiker*innen und Journalist*innen ( letztere übrigens auch fernab der BILD-Zeitung!), fundiert und differenziert mit psychischen Krankheiten umzugehen und diese nicht weiter zu stigmatisieren. Es ist dringend nötig, ein Verständnis dafür zu etablieren, dass eine Depression nicht gleichbedeutend ist mit geistiger Umnachtung und dass sie umso gefährlicher ist, je mehr sie totgeschwiegen wird. Es ist dringend nötig, zu erkennen, dass ein Mensch mehr ist als ein medizinischer Bericht, dass die psychische Erkrankung Teil einer Person ist und nicht die Person selbst, will sagen: Ich bin  politisch aktiv, liebe Musik und Kreativität, bin lebhaft, liebe Farben- und bin eben auch depressiv. Aber nicht nur!
Was mir geholfen hat, war, dass ich in meinem Bekanntenkreis weitgehend offen mit meiner Krankheit umgehen kann, Menschen, die diese nicht nachvollziehen können, habe ich relativ schnell aus meinen Kontakten entfernt. Aber  ich möchte weniger engen Bekannten nicht erzählen, ich sei schwer erkältet, wenn sie mich fragen, warum ich keine Zeit habe. Die Depression ist ein Teil von mir, ob ich nun will oder nicht. Indem ich so tue, als sei sie nicht da, verschwindet sie nicht- gleichzeitig verberge ich etwas, das zu mir gehört und mit dem ich leben muss. Am besten kann ich damit leben, wenn ich es akzeptiere. Aber wie soll ich etwas akzeptieren und offen damit umgehen, wenn ich erwarten muss, dafür schief angesehen, pathologisiert und verurteilt zu werden, wenn ich auch beruflich besser damit fahre, so zu tun als sei alles in Ordnung? Auch mitleidige Blicke und die Interpretation und Bewertung meines Verhaltens nur unter Bezug auf eine psychische Krankheit sind nicht konstruktiv, sondern Zeichen eines falschen Verständnisses.
  In unserer Gesellschaft gibt es viele Formen von Diskriminierung und sie werden unterschiedlich oft thematisiert. Doch ihnen allen ist gemein, dass sie außerordentlich destruktiv sind und, jene, die der Diskriminierung zum Opfer fallen, unendlich viel Kraft kosten. Auch der Umgang mit psychischen Krankheiten ist in unserer Leistungsgesellschaft erschreckend und geht oft mit Stigmatisierung und Abgrenzung einher. Das muss endlich ein Ende haben! Genausowenig, wie alle Frauen* für das Handeln einer einzigen verantwortlich gemacht werden dürfen, genausowenig, wie nach einer Prügelei zwischen Migrant*innen das “Migrant-Sein” als Argument gelten darf und genauso wenig, wie Menschen aufgrund ihres Alters eine politische Beteiligung von vornherein abgesprochen wird, genauso wenig dürfen wir zulassen, dass Menschen aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen ausgegrenzt werden.

 

Bildquelle: Pixelio.

 

Die*der Verfasser*in des Textes möchte gerne anonym bleiben.