Die westliche Gesellschaft hält sich- zumindest theoretisch- für sehr weit fortgeschritten auf dem Weg der Gleichberechtigung. Gut, unter Gleichberechtigung wird noch immer meist die zwischen Mann und Frau verstanden, Menschen fernab dieser Rollenbilder werden oft genug ausgeschlossen.
Doch nicht einmal diese, nennen wir es mal, konservativ konnotierte Form der Gleichberechtigung zweier eindeutig bestimmbarer Geschlechter ist heute Realität.

Durchschnittlich 30% aller Frauen wurden bereits Opfer sexualisierter oder körperlicher Gewalt, dabei ist die Dunkelziffer sehr viel höher. Beleidigungen, dumme Sprüche oder unpassende Kommentare über ihre Figur müssen sich weitaus mehr Frauen anhören, Belästigungen am Arbeitsplatz und die Reduktion aufs Aussehen im Berufs- wie Privatleben sind noch immer allgegenwärtig. Von „modernen“ Frauen* wird verlangt, dass sie neben dem Haushalt und der Kindererziehung im Idealfall noch Karriere machen und wenn jemand sexueller Belästigung zum Opfer fällt, steht die Frage, wie viel Einfluss die Kleidung der Frau auf diesen Vorfall hatte, vor der Frage nach Konsequenzen für den*die Täter*in.
Dem Phänomen des sogenannten „victim blaming“, bei dem Frauen zumindest die Mitschuld, wenn nicht sogar die Hauptverantwortung für sexuelle Übergriffe gegeben wird, widmen sich mittlerweile nicht nur unzählige feministische Blogs, sondern auch Forschungsinstitute.
Es ist mehr als erschreckend, dass die Gesellschaft mir als Frau* noch immer versucht vorzuschreiben, wie ich mich kleiden soll. Trage ich als Frau* in der Öffentlichkeit einen tiefen Ausschnitt, muss ich mich nicht wundern, wenn sich Fernsehkameras und Zeitungen vor allem dafür interessieren und nicht für meine Aussagen, ist mein Rock bodenlang, bin ich spießig und altmodisch, je kürzer er wird, desto mehr schreie ich doch danach, vergewaltigt zu werden.  
Nun kann die Konsequenz daraus ja schlecht sein, dass ich nur noch im Rollkragenpullover durch die Gegend renne. Wie ich mich kleide, wie ich mich schminke, ist allein meine Entscheidung. Und es ist egal, ob ich das zu meinem privaten Vergnügen tun oder auffallen will, mit meiner Jogginghose lasse ich nicht auch meinen freien Willen zuhause. Ich allein entscheide, was ich zulasse und wer das nicht respektiert und meine Grenzen überschreitet, hat offensichtlich nie gelernt, Grenzen zu respektieren und handelt übergriffig. So weit, so offensichtlich. Eigentlich.  
Die Tatsache, dass aber noch immer Frauen* in die Verantwortung genommen werden, wenn sie eine Vergewaltigung berichten, ist nicht hinnehmbar. Nicht nur, dass dadurch die Hemmschwelle steigt, eine Vergewaltigung oder einen Übergriff öffentlich zu machen (nach einer so unglaublichen   Respektlosigkeit gegenüber körperlicher und psychischer Grenzen kann niemandem zugemutet werden, sich mit Vorwürfen überschütten zu lassen), diese Form der Diskriminierung kann sich auch in aller Ruhe in der Gesellschaft ausbreiten, wenn sie nicht mit allen Mitteln bekämpft wird.  
Und nein, ich spreche hier nicht von einem Kampffeminismus á la Alice Schwarzer (die, so ganz nebenbei, für mich keine Feministin ist), sondern von dem, was Queerfeminismus eigentlich bedeutet, nämlich dem Ausbruch aus einer Gesellschaft, die von Cis-Männern dominiert wird und in der Frauen*, Inter,Trans- und queere Menschen in erster Linie nach äußerlichen Kriterien beurteilt werden.
Queerfeminismus ist etwas Schönes, Wertvolles, leider noch immer Notwendiges, denn wenn victim blaming schon bei Übergriffen auf Frauen*, denen bei Geburt eine Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht zugeschrieben wurde, gang und gäbe ist, so ist dies bei Übergriffen auf Inter-und Trans*menschen noch weitaus gravierender. Es ist an der Zeit, dass gesellschaftliche Kräfte victim blaming als Problem erkennen und thematisieren, es ist an der Zeit, Täter*innen in die Verantwortung zu nehmen und nicht die Opfer und es ist allerhöchste Zeit, queerfeministische Perspektiven, die genau dies zum Ziel haben, endlich anzuerkennen und nicht weiter zu dämonisieren. Schuld an Taten sind die, die sie begehen. Mein Rock ist nicht verantwortlich dafür, dass meine Grenzen nicht respektiert werden, ebenso wenig wie meine Gesten. Und wenn ich nein sage, heißt das nein, nicht ja, nicht später und auch nicht „ja los, ich warte darauf!“. Eine Gesellschaft, die sich selbst als emanzipiert verstehen möchte, hat die Pflicht, alle ihre Mitglieder in die Emanzipation miteinzubeziehen. Die Deutungshoheit, die Frage, was ein sexueller Übergriff ist und was nicht, liegt bei denen, die darunter leiden und nicht bei denen, die „doch nur Spaß machen“ oder sich im Recht sehen, obwohl sie bewusst wie unbewusst Grenzen Anderer überschreiten.  

 

Bis zu dem Moment, an dem mein Kleidungsstück als individueller Ausdruck meiner Persönlichkeit und Stimmung und nicht meiner sexuellen Willigkeit verstanden wird, ist es noch ein weiter Weg. Aber es ist dringend nötig, diesen Weg zu gehen und Opfern tätlicher und sexueller Übergriffe endlich mit Respekt und Unterstützung zu begegnen statt mit Anschuldigungen.
Ja, ich bin eine Frau, ja, ich trage gerne kurze Röcke, aber nein, das ist keine Einladung und nein, ich bin nicht selbst schuld, wenn etwas passiert.  

 

 

 Dieser Artikel stammt von Laila aus der Redaktion.
ttp://fra.europa.eu/de/press-release/2014/gewalt-gegen-frauen-sie-passiert-taglich-und-allen-kontexten
https://www.youtube.com/watch?v=8hC0Ng_ajpY Sarkastisches Video einer Schauspielgruppe über victim blaming